2. Der von Buddha gelehrte Edle Pfad“

Das Fundament des Buddhismus sind die vier edlen Wahrheiten, nämlich:

  1. die Wahrheit vom Leiden,
  2. die Wahrheit von der Leidensentstehung,
  3. die Wahrheit von der Leidenserlöschung,
  4. die Wahrheit vom Pfad, der zur Leidenserlöschung führt.

In diesen vier Wahrheiten finden wir die kürzeste Formulierung der befreienden Erkenntnis, die dem Buddha bei seiner Erleuchtung unter dem Bodhibaum aufging. Sie bilden die große thematische Klammer, denen der Erhabene seine zahlreichen Lehrvorträge untergeordnet hat.

Im „Schlangengleichnis“ sagte der Buddha in aller Klarheit: „Nur eins, ihr Mönche, verkündige ich, heute wie früher: das Leiden und des Leidens Ausrodung.“ Kurz zusammengefaßt sagt die erste Wahrheit aus, daß Leben identisch mit Leiden ist, weil sich alle Daseinsfaktoren als vergänglich, unpersönlich und nichtig erweisen. Diese Wahrheit erhält ihre tiefere Begründung durch die Lehre von den fünf Daseinsgruppen (khandha) und der Ich-losigkeit (anattā). Den vollen Umfang der ersten Wahrheit kann erst das Hellblickswissen erfassen. Daß Leben mit Leiden verbunden ist, erkennt aber jeder, der offene Augen hat. Diese Wahrheit heißt deshalb auch PARINNEYYA (= was man kennen muß).

Die zweite Wahrheit lehrt, daß die Bedingung für die Leidensentstehung das Begehren (tanhā) ist. Dieses tritt als Willensäußerung oder Wirken (Karma) in Form von gedanklichen, sprachlichen oder körperlichen Eingriffen in den Lebensprozeß in Erscheinung. Da der Lebensprozess selbst aber nichts anderes ist als das Ergebnis früheren Wirkens (Karma), erweist sich die jeweils erlebte Wirklichkeit als ein In – Erscheinung – Treten substanzloser, einander bedingender Faktoren, was im einzelnen in der Lehre von der bedingten Entstehung (paticcasamuppāda) dargestellt ist. Diese führt dann folgerichtig zusammen mit der anattā – Lehre zur Lehre von der Wiedergeburt.

Die zweite Wahrheit führt den Namen PAHATABBA (= von dem man loskommen sollte), vom Begehren nämlich, das die Hauptwurzel des Leidens ist.

Die dritte Wahrheit heißt SACCIKATABBA (= was verwirklicht werden sollte) und lehrt, daß mit dem Verlöschen des Begehrens die notwendige Bedingung für den Daseins- und Leidensprozeß fortfällt und dieser dadurch zum Verlöschen (Nibbāna) kommt.

Auch hier wird zur Erklärung der paticcasamuppāda herangezogen, den man aus anderer Perspektive auch als „Bedingtes Verlöschen“ bezeichnen könnte.

Die vierte Wahrheit, die wir nun heute eingehender untersuchen wollen, ist die Lehre vom Pfad, das heißt von der Lebenspraxis, mit der die dritte Wahrheit von der Leidenserlösung verwirklicht werden kann. Deshalb wird die vierte Wahrheit BHAVETABBA genannt, das heißt: was praktiziert werden sollte.

Der Pfad ist in acht Teile untergliedert, die im einzelnen heißen:

  1. Rechte Erkenntnis
  2. Rechte Gesinnung
  3. Rechte Rede
  4. Rechte Tat
  5. Rechter Lebenserwerb
  6. Rechte Anstrengung
  7. Rechte Achtsamkeit
  8. Rechte Sammlung

Hiervon faßt man nun die Teile Rechte Erkenntnis und Rechte Gesinnung unter dem, Oberbegriff pañña (= Weisheit) zusammen; die Teile Rechte Rede, Rechte Tat und Rechter Lebenserwerb werden zusammen sīla (= Tugend) genannt, und schließlich bilden Rechte Anstrengung, Rechte Achtsamkeit und Rechte Sammlung die Gruppe samadhi (= Sammlung).

Ohne nun auf die einzelnen acht Pfadglieder im einzelnen näher einzugehen, wollen wir heute einmal untersuchen in welcher Weise die drei Gruppen sīla, samadhi und pañña bei der Ausrodung des Leidens zusammenwirken.

Die größte Befleckung des Geistes ist die Unwissenheit (avijjā). In der Lehre von der bedingten Entstehung (paticcasamuppāda) tritt sie als erstes Glied der Abhängigkeitsreihe auf – als erste Bedingung für die Entstehung von Leben und Leiden. Man könnte direkt sagen: Leiden ist gelebte Unwissenheit, denn Leiden ist nichts anderes als die schmerzende Spur sich verlierenden Lebens Ausdruck der Ohnmacht des verblendeten Geistes, der sich verzweifelt gegen dieses unaufhaltsame Entgleiten, Zerfließen, Dahinschwinden wehrt.

Unwissenheit ist die Grundlage, Leben der Name, und Leiden das Symptom jener Geisteskrankheit, die Wirklichkeit in Ich und Umwelt zerschneidet und unter Bildung sich immer weiter verästelnder Widersprüche immer tiefer und tiefer einwurzelt.

Die Produkte dieser Spaltung versuchen einander zu verschlingen: das Ich greift in die Umwelt; handelnd und denkend sucht es sie zu fassen und zu erfassen aber unter den Fingern, unter den Begriffen zerrinnt das Ergriffene und Begriffene.

Die Gesetze der Umwelt wiederum ziehen das Ich in den Sog des unablässigen Werdens und Vergehens, des Geborenwerdens und Sterbens.

Alles, was in diesem Wahn (moha) des Greifens und Ergriffenwerdens dem Ich Stabilisierung verschafft, das erstrebt es mit Gier (lobha), was dagegen seinen Bestand angreift, was es unsicher macht, dem widersetzt es sich mit Haß (dosa). So ergibt sich ein Hin- und Herpendeln zwischen Sinneslust und Übelwollen, Aufgeregtheit und Stumpfheit, begleitet von wachsendem Zweifel. Die drei Hauptwurzeln allen Übels: Gier, Haß und Verblendung treten nun je nach Lage der Ich-Motive zu den äußeren Bedingungen in abgestuften Graden auf:

Unter relativ günstigen Umständen bleiben die Unreinheiten des Geistes unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Diesen latenten Zustand nennt man anusaya (= unbemerkter Zustand). Er zeichnet sich dadurch aus, daß die Anwesenheit positiver Bewußtseinsinhalte wie Selbstlosigkeit, Güte und Einsicht eine Verdrängung der negativen bewirkt. Ein durch solche positiven Motive bewirktes Handeln gilt als heilsames Wirken. Die im Unterbewußtsein vorhandenen Unreinheiten aber bestehen weiter und drängen zur Oberfläche. Solange sie nicht an der Wurzel gepackt und ausgerissen werden – (und dies ist nicht ein Vorgang heilsamen Handelns, sondern wirklichkeitsgemäßen Erkennens!) – beeinflussen sie die Struktur des Ichs und damit seine Erlebniswelt.

Sehen wir uns diesen Vorgang einmal genauer an! – Der Kontakt zwischen Ich und Umwelt findet über das Nervensystem statt, dessen jeweiliger Zustand ausschlaggebend das bestimmt, was wir unsere erlebbare Wirklichkeit nennen. Zu diesem Nervensystem gehört neben den aufnehmenden fünf Sinnesorganen Auge, Ohr, Nase, Zunge und Testkörper, die das Gehirn ununterbrochen mit Daten versorgen, vor allem der Verstand, der diese Daten ordnet, sie zueinander in Beziehung setzt und schließlich ein Bild der Umwelt entwirft.

Dieses Bild aber ist Resultat eines Wahrnehmungsvorganges, der sich wesentlich im Unterbewußtsein abspielt und von diesem mit geformt wird.
Infolgedessen treten die Objekte der Wahrnehmung nicht als reine Formen, Farben, Töne usw. ins Bewußtsein, sondern als emotional eingefärbte Dinge und Dingbeziehungen, die sofort entweder als angenehm oder als unangenehm empfunden werden.

Erkennt der Verstand, der ja nun dieses Material sichten und ordnen soll, nicht die durch sein Unterbewußtsein bedingten Verzerrungen und identifiziert er sich mit dieser Erscheinungswelt (nichts anderes ist avijjā!), so tritt der Wille in Erscheinung, der den angenehmen Objekten zustrebt und die unangenehmen abstößt: Gier und Haß erwachen und treten ins Bewußtsein. Diesen Zustand nennt man PARIYUTTHANA = gemerkter Zustand.

Läßt man sich schließlich aus einem solchen Zustand heraus zu aktiven Handlungen, also Reden oder Tun hinreißen, so treten die Unreinheiten des Geistes offen zutage. Diesen Zustand nennt man VITIKKHAMA (= Ausbrechen). Die harten und bitteren Worte, die ein Mann im Zorn äußert, sind ein Beispiel für einen solchen Ausbruch.

Fassen wir noch einmal kurz zusammen: Die Unreinheiten des Geistes zeigen sich im Fühlen, Denken und Handeln. Sie treten in drei Zuständen auf, von denen der Schlafzustand der subtilste ist; danach kommt der erwachte Zustand im Denken und schließlich der grobe Zustand des Ausbrechens im Handeln.

Die drei Gruppen des Edlen Pfades: Tugend, Sammlung und Weisheit sind nun drei mächtige Waffen, die uns im Kampf gegen die Unreinheiten des Geistes und damit zur Überwindung des Leidens helfen.

Ähnlich wie man ein Werkzeug säubert, das mit Erdklumpen, Sand und Staub beschmutzt ist, reinigt man den Geist von seinen drei Zuständen der Unreinheit.
Man entfernt ja nicht die Erdklumpen gesondert vom Sand, und den Sand nicht gesondert vom Staub, sondern indem man bewußt den groben Schmutz abwischt, erfaßt man schon einen großen Teil des feineren Schmutzes mit. Richtig bemerkt wird der feinere Schmutz freilich erst, wenn der grobe schon weg ist, und mit fortschreitender Reinigung kann sich die Aufmerksamkeit auf immer feinere Schmutzschichten richten, bis schließlich das Werkzeug blank und einsatzbereit ist.

Ebenso richten wir bei der Reinigung des Geistes zunächst unser Bemühen darauf, die Unreinheiten nicht in unseren Handlungen zum Ausbruch kommen zu lassen. Dies ist das, Wirkungsfeld von sīla (= Tugend).

Um ihren Ausbruch verhindern zu können, müssen wir die Unreinheiten bereits im erwachten Zustand erkennen, das heißt wir müssen ihr Vorhandensein im Bewußtsein feststellen. Dies erfordert ein scharfes Beobachten der eigenen Stimmungslage und der aus ihr erwachsenden Handlungsantriebe.

Nun treten die Unreinheiten nicht immer in so ausgeprägter Form auf, daß wir nach unserem Sprachempfinden gleich von Gier, Haß oder Verblendung sprechen würden. Mit diesen Begriffen sind aber treffend die Grundtendenzen des Angezogen- bzw. Abgestoßenwerdens infolge von Unwissenheit gekennzeichnet, die allen üblen Handlungsantrieben zugrunde liegen. Das Abgestoßenwerden zum Beispiel könnten wir genauer differenzieren nach Haß, Zorn, Unwillen, oder Grauen, Angst, Furcht, oder Ekel, Widerwillen, Unbehagen. Stattdessen wird der Einfachheit und Klarheit halber nur der Begriff „Haß“ verwendet. Entsprechendes gilt für die anderen Unreinheiten. Alle diese Unreinheiten lassen sich gefühlsmäßig daran erkennen, daß unser inneres relatives Gleichgewicht gestört wird und eine im Grunde unangenehme Erregung auftritt. In diesem Moment ist Selbstbeherrschung und nüchternes Denken geboten.

Ein praktisches Beispiel: Wir hören ein Gespräch mit an, in dem jemand, der uns ohnehin irgendwie unsympathisch ist, seine Auffassung von der Buddhalehre einem anderen darlegt. Sofort entsteht in uns der Drang zu beweisen, daß wir die Lehre besser verstanden haben als er. Mit Unruhe verfolgen wir den weiteren Verlauf des Gespräches, um das Stichwort für unser Einmischen zu finden, ja wir lauern geradezu auf eine Ungenauigkeit, eine schwache Formulierung . . . HALT! – Wir werden uns hüten, aufgrund dieses Vorgangs, der uns völlig verzerrt ins Bewußtsein tritt, spontan und unbeherrscht zu handeln. Unser Geist ist von Unwissenheit geblendet: da ist Gier (uns als große Kenner zu bestätigen), und da ist Haß (dem anderen eins auszuwischen). Wir beschränken uns, nachdem wir dies erkannt haben, auf reines Zuhören und beobachten die Wirkung des Gehörten auf uns. Hierdurch gewinnen wir bald einen gewissen Abstand, der sich auch in einer Stabilisierung unserer Gefühlslage zeigt. Der bessere Überblick über das Gespräch und die ruhige Überlegung zeigen dann oft, daß ein Einmischen völlig überflüssig gewesen wäre. Und wir haben einen großen Sieg errungen: die Unreinheiten sind nicht zum Ausbruch gekommen.

Glücklicherweise kommt es aber auch vor, daß andere Situationen edle Motive in uns wachrufen, wie zum Beispiel Opferfreude, Hilfsbereitschaft und Verstehen. Oft hindert uns dann aber die eigene Unsicherheit und Schwäche, die edlen Antriebe durch entsprechende Taten zu verwirklichen. So gedeiht die Opferfreude gerade noch zur Pflichterfüllung, die Hilfsbereitschaft zum sentimentalen Bedauern, das Verständnis zum gleichgültigen Gewährenslassen. Die guten Impulse dürfen wir aber nicht verkümmern lassen, sondern wir müssen sie durch kraftvolles Wirken zur Reife und Frucht bringen. Das Böse meiden, das Gute tun – das ist die Entfaltung von sīla (= Tugend).

Kehren wir nun zu unserem Beispiel vom mitgehörten Gespräch zurück! – Zunächst hatten wir die Unreinheiten unseres Geistes erkannt und in rechter Einschätzung der Situation das Richtige getan, nämlich vom Einmischen Abstand genommen. Damit haben wir eine Komplizierung des Problems, das wir ja inzwischen als unser Problem erkannt haben, vermieden. Eine unbedachte Reaktion im äußeren Feld hätte nur Verwirrung gestiftet, so aber haben wir die Freiheit der gedanklichen Reflexion gewonnen. Hiermit betreten wir aber schon das Gebiet der samadhi (= Sammlung).

Es geht jetzt nicht mehr in erster Linie darum, böses Handeln zu vermeiden, sondern um eine tiefgehende Analyse des eigenen Denkens, Empfindens und Wahrnehmens, das heißt des Bereiches, in dem die Antriebe zum Handeln überhaupt entstehen. Die Regungen des eigenen Geistes wie gewöhnliche Objekte zu betrachten, ist allerdings für die meisten Menschen eine ganz ungewohnte Aufgabe. Der Durchschnittsverstand sieht überhaupt keinen Unterschied zwischen Wahrnehmung, Bewußtwerden und Denken. Auch hier gilt es zunächst, Abstand zu gewinnen und vorurteilslos zu beobachten. Dies ist leichter gesagt als getan. Wir müssen hierzu nämlich ein hohes Maß an Aufmerksamkeit aufbringen, denn der ungeübte Geist ist äußerst ablenkbar.

Es gibt nun aber ein ganzes System von Konzentrationsübungen, die SAMATHA-Meditationsgruppe, mit deren Hilfe man das Denken schulen kann. Die „Wunder“ der indischen Yogis sind zum großen Teil auf eine außerordentlich gesteigerte Konzentrationsfähigkeit zurückzuführen. Wer diese Meditationsarten beherrscht, kann sein Denken kontrollieren und ist imstande, seinen Geist vom PARIYUTIHANA – Zustand zu befreien, das heißt er kann die Unreinheiten schon im Entstehen erkennen und ihr Einwurzeln im Bewußtsein verhindern. Bei einer so erlangten Freiheit des Denkens sollte man jedoch nicht in die Falle gehen und glauben, daß man einen vollen Sieg über seinen Geist errungen hat. Die Unreinheiten sind zurückgedrängt, aber noch nicht beseitigt. Der wirkliche Sieg wird erst dann errungen, wenn der Geist frei ist vom ANUSAYA-Zustand, das heißt vom latenten Zustand der Unreinheiten im Unterbewußtsein.

Der Buddha, der vor seiner Erleuchtung verschiedene Meditationsarten praktizierte und die Grenzen dieser Übungen erfahren hat, entwickelte schließlich selbst eine neue Geistesschulung, mit der natürlich die notwendige Disziplinierung des Denkens, vor allem aber die wurzeltiefe Ausrodung der Unreinheiten des Geistes erreicht wird. Mit dieser Methode, der VIPASSANA-BHAVANA (= Hellblick oder Klarblick erwirkende Geistesentfaltung) erreichte der Buddha die höchste Stufe menschlicher Geistesentwicklung wozu die SATIPATTHANA – Meditation übrigens die Grundlage dieser Geistesschulung bildet.

Der Erwachte hat immer wieder darauf hingewiesen, daß alles Leid mit Unwissenheit beginnt und daß die restlose Zerstörung der Daseinsfessel nur durch die Entfaltung von paññā (= Weisheit) erreicht wird. Erst der reine, fleckenlose Geist erkennt, daß zwischen Ich und Umwelt gar kein Wesensunterschied besteht: da ist kein Getrenntsein von Erkennendem und Erkanntem, wo zwischen sich Gier oder Haß einnisten könnte, da ist nur dieser Substanz- und Ich-lose Lebensprozess, den das Hellblickswissen als vergänglich, unpersönlich und nichtig erkennt. Die tiefste Durchdringung aller Daseinserscheinungen mit dem Licht des Hellblicks wird VIPASSANA-PANNA oder Weisheit des rechten Sehens genannt. Keine Worte können diese Weisheit erklären. Sie muß im sittlichen Handeln gegründet und in der Meditation geduldig entfaltet werden. Der Weg, den man geht, um dieses Ziel zu erreichen, ist der Edle Pfad, den der Buddha uns gelehrt hat.

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