Opfer vs. Mitgefühl

Wie schnell verliert man sich in den Problemen Anderer?

Diese Frage braucht man wohl überhaupt nicht weiterdenken, wenn man erkannt hat, dass dies einzig möglich wird, wenn man die eigenen Probleme am liebsten von Anderen gelöst bekommen möchte. Je mehr ich mich vor der Lösung meiner eigenen Probleme scheue, desto stärker ist die Suche nach Möglichkeiten zur Flucht. Und was bietet sich da unter dem Mantel der Nächstenliebe nicht besseres an, dem Anderen eine helfende Begleitung zu sein.

Inwieweit dies dann wirklich eine Hilfe bietet ist ebenso fraglich.

„Hab keine Angst Pilar. Du musst hier nichts inszenieren.“
[…]
„Es gibt Leute, die sind mit Jemandem im Streit, mit sich selbst im Streit, mit dem Leben im Streit. Sie fangen dann an in ihrem Kopf ein Art Theaterstück zu inszenieren, dessen Handlungen ihren Frustrationen entspricht. „
[…]
„Das Schlimmste ist jedoch, dass sie dieses Theaterstück nicht alleine aufführen können“, fuhr er fort. „Und dann holen sie sich Mitspieler heran. Genau das hat der Alte getan. Vielleicht wollte er sich für etwas rächen und hat nun uns als Sündenböcke ausgesucht. Wären wir auf sein Verbot eingegangen, würden wir es jetzt bereuen und uns besiegt vorkommen. Wir hätten uns dann nur darauf eingelassen Teil seines kleinlichen Lebens und seiner Frustration zu sein. Der Mann steckte voller Agression, das war nicht zu übersehen. Und es war einfach für uns sein Spiel nicht mitzumachen. Andere Menschen hingegen führen sich als Opfer auf, beklagen sich über die Ungerechtigkeit des Lebens. Bitten ihnen zuzustimmen, ihnen Ratschläge zu geben. Und fordern uns so auf in ihrem Stück mitzuspielen.“ Er blickte mir in die Augen. „Vorsicht!“, sagte er. „Wenn man sich auf dieses Spiel einlässt, ist man am Ende immer der Verlierer.“

(Auzug aus „Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte“ Paolo Coelho)

Sich einem Anderen zu opfern, seine eigenen Probleme zu vernachlässigen und dem Anderen in seiner dramatischen Weltsicht einen Mitspieler zu bieten, zieht das leidvolle Erleben einfach in die Länge. Frei von eigenen Problemen zu sein, im Sinne von illusionsfreier Abarbeitung der auf einen zukommenden Aufgaben, ermöglicht Mitgefühl. Dieses lässt dann nicht mitspielen, sondern nimmt den Spieler unabhängig von seiner Rolle und dem Stück wahr.

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